Die Aufgabe des Digitalen Zwillings besteht darin, die Eigenschaften eines physischen Produktes widerzuspiegeln. Er wird vor der eigentlichen Herstellung von Produkten erstellt, um beispielsweise gewisse Eigenschaften oder Verhaltensweisen in Simulationen vorab zu testen. Ein Beispiel hierfür ist ein 3D-Modell einer Maschine. Neben den Zwillingen von realen Gegenständen, also Produktzwillingen, gibt es auch den Digitalen Prozesszwilling. Dieser bildet Geschäftsprozesse oder Arbeitsabläufe digital ab. Beide Arten sind notwendig, um eine Digitale Fabrik im Sinne von Industrie 4.0 zu betreiben.
Technische Umsetzung: Wie entsteht ein Digitaler Prozesszwilling?
Die Grundlage für Digitale Prozesszwillinge sind einheitliche Referenzmodelle. Dabei wird sozusagen ein Modell als Referenz entwickelt, welches für die Erstellung weiterer Modelle dient. Hierfür ist die Datenbereitstellung, also die Identifikation, Definition und Extraktion von (digitalen) Prozessaktivitäten und -parametern ein wichtiger Bestandteil. Durch die Analyse von Systemen und das Trainieren eben jener entstehen statisch-mathematische Modelle, welche in der Lage sind, Prozesse eigenständig zu optimieren bzw. gesamt neu zu erstellen. Des Weiteren müssen die vorhandenen Prozessdaten richtig zusammengefasst und aufbereitet werden. Nach der Analyse dieser erstellten Datenbasis entsteht ein Referenzmodell, das den zu verbessernden Prozess so genau wie möglich abbildet. Dieses Modell enthält alle relevanten Parameter, Abhängigkeiten sowie kritischen Werte und bildet das digitale Prozessabbild – den Digitalen Prozesszwilling.
Potenziale: Digitalisierte Supply Chain
Der Hauptzweck eines Digitalen Zwillings in der klassischen Industrie 4.0 Nomenklatur besteht darin, Vorabtests, kostengünstige Predictive Maintenance Analysen oder komplette virtuelle Inbetriebnahmen zu ermöglichen. Digitale Prozesszwillinge zielen darauf ab, Endanwender bei der Erstellung oder Optimierung von Prozessen zu unterstützen. Effizienz- und Qualitätssteigerung sind allerdings nicht die einzigen Vorteile von Digitalen Prozesszwillingen. Durch den Einsatz von virtuellen Prozessmodellen lassen sich die tatsächlichen Strukturen und Abläufe in der Supply Chain präziser und tiefgreifender analysieren, als dies mit Checklisten und Lean-Manuals möglich ist. Diese Herangehensweise eröffnet beispielsweise völlig neue Möglichkeiten in der Bewertung, Steuerung und Qualifizierung von Lieferanten. Neue Partner werden wesentlich schneller und einfacher in die Supply Chain integriert, was Abhängigkeiten reduziert und den Aufbau neuer lokaler Produktionsstätten erleichtert. Damit sind virtuelle Prozesszwillinge auch ein strategischer Faktor beim Aufbau eines digitalisierten Supply Chain Managements.
Aus der Praxis: Was ist möglich und wohin geht die Reise?
Nutzt man den Digitalen Prozesszwilling in einer Cloudplattform wie der Fabasoft Business Process Cloud, die eine leistungsfähige Workflow-Engine bereitstellt, und kombiniert dies mit Fabasoft Approve, dem Standardprodukt zum Managen von Technischen Daten in der Industrie, hat man eine Basis zur durchgängigen Digitalisierung sämtlicher (administrativer) Geschäftsprozesse innerhalb einer digitalen Fabrik. Dadurch sind Industrieunternehmen in der Lage, Informationen über die gesamte Linie der Supply Chain hinweg zu sammeln, zu dokumentieren und aufzubereiten. Durch die Verbindung von Prozessen mit technischen Daten und Dokumentationen in der cloudbasierten Datenplattform entsteht eine digitale Information Supply Chain mit der Produktion auf dem Shopfloor und dem Management von Kunden und Lieferanten. Dadurch ergibt sich ein idealer Anwendungsfall für Digitale Prozesszwillinge, der den Startpunkt diverser Forschungs- und Entwicklungsfragen in diesem Themenbereich darstellt.
Große, investitionsintensive Güter wie Zuggarnituren, Windräder oder Komponenten für Kraftwerke werden dann nicht nur in der klassischen Industrie 4.0 Definition virtuell vorbereitet und optimiert, der gesamte Produktions- und Lieferprozess wird digital plan- und steuerbar. Somit sind auch weitere Prozessinnovationen denkbar: „Out of Stock“-Situationen werden minimiert und Daten zum Transportgut (wie Lokation, Zustand usw.) sind für alle Beteiligten im Wertschöpfungsnetzwerk zu jeder Zeit verfügbar. Somit steuern und überwachen Lieferanten und Produzenten ihre Lieferkette gemeinschaftlich. Damit diese Vision jedoch Realität wird, müssen sich bestimmte Daten teilweise zu einer Art Gemeinschaftsgut für die Wertschöpfungspartner wandeln.
Optimierungspotenziale durch KI
In der Praxis zeigt auch die Künstliche Intelligenz erste vielversprechende Ansätze in der Forschung: Prozessverantwortliche, die heute noch manuell nach Abweichungen suchen müssen, werden durch intelligente Systeme unterstützt und überwachen auf diese Weise komplexe, unternehmensübergreifende Prozessketten. Dies stellt einen Schritt in Richtung eines selbstlernenden und -optimierenden Systems dar, welches mithilfe von Digitalen Zwillingen den Weg für die vollautomatisierte Abwicklung standardisierter Prozesse ebnen kann. Das führt uns, wie bereits in meinem Blogbeitrag „Natural Language Processing – KI die uns versteht?“ behandelt, erneut zum Thema der „Integrierten Entscheidungs- und Unterstützungssysteme“ (Integrated Decision Support Systems, IDSS).
Der Grundstein ist gelegt: Die europäische Datenplattform
Die vorangegangenen Erläuterungen haben verdeutlicht, dass besonders die Datenverfügbarkeit ein zentrales Thema für Digitale Prozesszwillinge und IDSS-Überlegungen ist. Vor diesem Hintergrund rücken die Themen Gaia-X und Industrial Dataspaces in den Fokus. Aus diesem Grund engagiert sich Fabasoft seit Gründung der Gaia-X AISBL in den Themen „Identity Access Management Working Group“ und „Data Exchange Working Group“.